Montag, 2. Mai 2022

«Die Gespräche sind unerträglich» – Chris Schmid über seine Erfahrungen mit dem Krieg in der Ukraine

Chris Schmid, Vorstandsmitglied der GLP Bezirk Aarau & Kulm, ist mit einer Ukrainerin verlobt und war seit Kriegsausbruch zwei Mal in Grenznähe zur Ukraine. Seine Erlebnisse schildert er in diesem Interview.

Welchen Bezug hast du zur Ukraine? 

Chris Schmid: Meine Verlobte ist Ukrainerin, und ich habe etliche Monate im Jahr 2021 in der Ukraine verbracht. Entsprechend habe ich eine tiefe Verbundenheit zu diesem Land und der Bevölkerung. Selbstverständlich habe ich durch meine Verlobte auch Familie und ein paar Freunde von dort. Es sind Leute, die jetzt zum Teil in der ukrainischen Armee kämpfen. Zudem bin ich erst am 15. Februar 2022 in die Schweiz zurückgereist, also neun Tage vor Kriegsanfang.

 

Du bist auch jetzt in der Kriegssituation in die Ukraine gereist. Wie bist du dorthin gekommen? 

Ich habe meine Verlobte in Iasi in Rumänien abgeholt, als ihr die Flucht aus Kyiv gelungen war. Ich bin dorthin geflogen. Ursprünglich war das Ziel, sie direkt in Moldavien abzuholen, der Luftraum war aber geschlossen und zudem ist das Land völlig überfordert mit der Situation und den über 10% Flüchtlingen (300k+) verglichen mit der eigenen Bevölkerungszahl (2,6 Mio.).

Meine Verlobte floh mit einer Familie per Auto aus Kyiv an die Moldavische Grenze. Dort konnten sie erst am Tag danach nach Chisinau gelangen, weil am Ankunftstag alle Busse etc. komplett überfüllt waren. Sie haben die Nacht in einem Nonnenkloster verbracht. Am Tag danach sind sie weiter nach Chisinau und dort hatte ich zwei Unterkünfte gebucht für sie.

Leider wurde eine dieser Unterkünfte über Nacht storniert, nur um sie dann wieder um 10% teurer online zu stellen. Eine andere Vermieterschaft weigerte sich, sie aufzunehmen, weil sie mit Hund reisten. Sie fanden dann Unterschlupf bei einem ehemaligen Arbeitskollegen der Familie und konnten dort eine Nacht schlafen, bevor sie per Bus nach Iasi und Rumänien gelangten.

Vor Ort haben wir dann noch versucht, Leuten mit Gütern oder Flugorganisation zu helfen. Dies war jedoch schon Anfang März, und zu diesem Zeitpunkt waren es in unserer Wahrnehmung sehr "geplante Fluchten". Das heisst, wer nach Rumänien kam, hatte fast immer Familie oder Freunde irgendwo in Europa und war auch finanziell genug gut ausgestattet, um selber einen Flug etc. zu buchen. Unser Eindruck war, dass viele ohne entsprechende Kontakte im Ausland, ohne Sprachkenntnisse und aus eher einfacheren Verhältnissen erst später geflohen bzw. innerhalb der Ukraine geblieben sind.

Mitte März bin ich dann mit anderen an die slowakisch/ukrainische Grenze (Ushgorod), und wir haben dort Hilfsgüter abgeliefert und 10 Leute in die Schweiz mitgenommen. Die slowakische Grenze war super organisiert, es gab Zelte des IKRK und anderer Hilfsorganisationen, wo man Kleider, Essen, Babynahrung und -kleider sowie Tierfutter mitnehmen konnte, bevor man per Bus entweder nach Michalovce oder Kosice gebracht wurde. 
Wir haben die meisten unserer Hilfsgüter (medizinische Sachen, wie Verbände, Ultraschallmaschine, Medikamente oder Essen) zuvor einem bekannten NGO übergeben, das es in die Ukraine brachte oder selbst in die Lagerräume nahe der Grenze gebracht hat. An der Grenze war von allem genug vorhanden.

Von der Grenze sind wir nach Michalovce und haben uns beim Flüchtlings-Camp als Freiwillige gemeldet und angeboten, Leute mitzunehmen. Insgesamt haben wir 6–7 Stunden dort verbracht und mit einigen Leuten sprechen können. Seien es Geflüchtete, Helfer oder andere Freiwillige, die Leute abholen wollten.

 

Wer hat dich begleitet? 

In Rumänien war ich allein. In der Slowakei war ich mit einem Freund unterwegs und bis kurz vor dem Grenzgebiet mit zwei Unbekannten.

 

Als du angekommen bist, welches Bild hat sich dir gezeigt? 

Insgesamt wirkte alles sehr gut organisiert, sei es am Flughafen Iasi, der Grenze zu Ushgorod oder im Flüchtlingslager in Michalovce. Die schiere Masse an Flüchtenden ist eigentlich das grösste Problem. Was wie im Fall Moldaviens klar ist; die Schweiz wäre bei 800‘000 Flüchtenden wohl sehr viel schlechter vorbereitet.

 

Was hast du vor Ort erlebt? 

Seit Beginn des Krieges geht mir das alles sehr nahe. Ich hab mir entsprechend einen gewissen Selbstschutz aufgebaut, der mich emotional etwas schützt. Die Bilder, die Gespräche und die Gedanken an die Leute, die fliehen mussten oder die nicht fliehen konnten, sind aber unerträglich. Das Leid gewisser Leute ist schlimm und bei vielen merkt man, dass sie emotional mitgenommen, verwirrt und verzweifelt wirken, wenig Schlaf hatten und mit ihren Gedanken woanders sind.

Es gab da z.B. diesen Familienvater, der mit Frau und 15-jähriger Tochter aus dem Donbass floh. Die Tochter hat MS, und nur deshalb konnte der Vater das Land überhaupt verlassen. Die Tochter war anfangs im Flüchtlingslager, der Vater und die Mutter hielten sich um die Infozelte auf und suchten eine Bleibe. Sie hatten dort Stunden verbracht und wollten sich einfach nur in Sicherheit bringen – auch, dass der Tochter am Zielort eine gute Behandlung zuteilwerden konnte. Sie sprachen selbst nur Russisch und hatten es entsprechend schwierig.

Meine Verlobte konnte telefonisch bei der Übersetzung helfen, und so entschied sich die Familie, mit uns per eigenem Auto in die Schweiz zu reisen. Sie gingen dann ins Flüchtlingslager, um ihre Sachen zu holen und sich uns anzuschliessen.

Wir sprachen dann mit mehreren Leuten, die mit dem Familienvater ebenfalls zu tun hatten. Gerade die Helfer des Lagers berichteten uns, dass er komplett verwirrt sei und etliche Male die gleichen Fragen gestellt hätte, sich immer wieder anderen Leuten anschliessen wollte und das dann kurz darauf vergessen hatte. So machte ich mir entsprechende Sorgen, als die Familie 4 Stunden später kurz vor Abfahrt noch nicht zurück war, dass wir sie nicht mehr erreichen konnten, denn wir mussten losfahren.

Zum Glück tauchten sie dann 10 Minuten vor Abfahrt endlich wieder auf und konnten sich uns anschliessen. Als wir in der Schweiz ankamen, umarmte mich der Vater mit Tränen in den Augen und bedankte sich etliche Male, dass wir ihn und seine Familie mitnahmen und in Sicherheit brachten. Die Tochter ist inzwischen in guter medizinischer Behandlung und ab nächster Woche in der lokalen Schule. 

 

Mit welchen Gefühlen fuhrst du wieder zurück in die Schweiz? 

Mich beelendete der Gedanke, hier in der Schweiz in Sicherheit zu sein und so viele Leute z.B. in Asovstahl haben kaum noch zu Essen, Trinken und sind teilweise kurz vor dem Tod. Ich habe mir häufig in Gedanken durchgespielt, wie es wäre, in die Ukraine zu reisen und mich einer Hilfstruppe oder Ähnlichem anzuschliessen. Seit meine Verlobte hier ist, ist es natürlich nochmals anders. Ihr lokaler Arbeitgeber bittet die Leute, wieder vor Ort in Kyiv arbeiten zu kommen. Entsprechend macht sie sich Sorgen, auch zurückbeordert zu werden. Ich würde in diesem Fall wohl zumindest temporär ebenfalls nach Kyiv. 
Ganz grundsätzlich freue ich mich aber unendlich, wieder in die Ukraine zu reisen, wenn die Russen verloren haben.

 

Interview: Simone Mayer-Jacober